Geschichte der St. Martinskirche

 

Die Geschichte der Wackernheimer Kirche beginnt wahrscheinlich schon mit der fränkischen Landnahme um das Jahr 500, als dieses starke germanische Volk vom Westen her in unser Gebiet eindrang und dabei die Alemannen vertrieb. Den St. Martin, als Schutzpatron fränkischer Kirchen, brachten die Franken aus ihrem früheren Siedlungsgebiet zwischen Maas und Mosel mit zum Rhein. Der in Wackernheim geborene Heimatforscher Balthasar Porth vermutete, allerdings ohne Angabe seiner Quellen, dass irisch-schottische Mönche schon vor 680 n.Chr. auf der das mittlere Wackernheimer Tal beherrschende Löß-Platte eine erste Kirche errichtet hätten, die dem St. Martin geweiht wurde. Sie befand sich auf demselben Gelände, auf dem die heutige evangelische Kirche ihren Standort hat. Mauerreste sowie der bei der Errichtung der großen Umfassungsmauer im Jahre 1856 vorgefundene Säulenstumpf mit dem Weihwasser- bzw. Taufbecken geben dieser Annahme sicheren Halt. Die dendrochronologische Untersuchung von Holzteilen, durch Altbürgermeister Friedel Holighaus veranlasst, bestätigte dass das alte Holz im Kirchturm von einem Baum stammt, der zwischen 680 und 700 gefällt wurde.

 

Im Jahre 788, also zur Zeit Karls des Großen, schenkte Bernachar, ein Mitglied der großen Adelsfamilie der Otakare, seinen von seinem Vater Eburachar geerbten Anteil an der St. Martinskirche dem Kloster Fulda. Dies ist die erste Urkundliche Erwähnung einer Wackernheimer Kirche. Bei dieser handelte es sich also nicht um eine Gemeindekirche, sondern um eine sogenannte Eigenkirche, die zu dieser Zeit durch Erbfolge bereits mehreren Mitgliedern der Wackernheimer Adelsfamilie gemeinsam gehörte. Die Geschichts-forscher kamen zu der einmütigen Auffassung, dass der Schenkung mindestens zwei bis drei Erbgänge vorausgegangen sind. Aus all diesem ergibt sich, dass die von Porth angenommene Gründungszeit der Kirche um 680 zutrifft.

 

Urkundlich nachzuweisen ist es zwar nicht, aber doch wohl zutreffend, dass der Hl. Bonifatius mit der Wackernheimer Familie, die ja zu den sogenannten Mainzer Großen des Merowinger- bzw. Karolingerreiches zählte, gut bekannt, wahrscheinlich sogar befreundet war. Dies bestätigen sicher all die spontanen Schenkungen aus diesem Personenkreis unmittelbar nach seinem Märtyrertod. Die Schenkung des Otachars vom 17.6.754 an das von Bonifatius gegründete Kloster Fulda, einen Weinberg in Wackernheim, ist die erste urkundliche Erwähnung unserer Gemeinde überhaupt. Die 1200-Jahrfeier 1956 (nach heutigen Erkenntnissen verspätet) und die 1250-Jahrfeier im Jahre 2004 erinnerten an diese erste von vielen, nachfolgenden Schenkungen an das Kloster Fulda. Über viele Jahrhunderte bis zur Jetztzeit wurde das Kirchweihfest, die Kerb, nicht nach dem Namenspatron St. Martin, sondern nach dem Todestag des Hl. Bonifatius gefeiert.

 

Mehrere Nachfolger des großen Bonifatius als Erzbischöfe von Mainz entstammten der Wackernheimer Familie. Richolf von 787 bis 813, Otgar von 822 bis 847 und der über seine Mutter dazugehörende Hrabanus Maurus, von 847 bis 856. Die Familie der Otakare stellte unter Pippin, Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen ständig Mitglieder der Hofkapelle, also des königlich-kaiserlichen Regierungsapparates. Ihr entstammen viele Männer und Frauen, die als Feldherren, als Gaugrafen und Herzöge, als Äbte und Äbtissinnen große Leistungen vollbrachten.

 

Die Gründer des Klosters Tegernsee, der Paladin des frühverstorbenen Karlmann, mit dem Namen Otakar, und dessen Bruder Adalbert, der erste Laienabt dieses Klosters, gehören ebenso dazu, wie der Abt Haribert von Murbach (Elsass), der 767 als Gesandter des Königs Pippin bei Papst Paul I. in Rom weilte. Dieser Haribert schenkte 766 einen Wackernheimer Weinberg dem Kloster Fulda,  das über lange Zeiten hinweg seinen Messwein aus unserem Dorf bezog. Auch die Äbtissin Ada, Stifterin des berühmten Trierer Prachtevangeliars, gehörte zu dieser Familie. Sie schenkte die Mainz-Bretzenheimer Salvatorkirche mit der gleichen Urkunde an das Kloster Fulda, als auch Otakar als Nebenlieger und Schenker eines weiteren Grundstückes, sowie weitere Familienangehörige dort als Nebenlieger genannt werden.

 

Ein Ritter Arnold von Wackernheim, Zeitgenosse der Hildegard von Bingen, die von 1089 bis 1179 lebte, flehte die als Ärztin bekannte Heilige um Hilfe für seine Atemnot an. Diese sandte ihrem Bekannten gesegnetes Wasser - vielleicht Assmannshäuser Mineralwasser - und verschaffte ihm damit die erhoffte Linderung. 1278 schenkte Heinrich von Ockenheim, ein Keller (Mundschenk) des Erzbischofs von Mainz, dem Frauenkloster und seiner Äbtissin seine Güter zu Wackernheim. 1376 wird Wackernheim mit mehreren Städten und den Dörfern des Ingelheimer Grundes zur Hälfte an die Bürger der Stadt Mainz verpfändet.

Zu dieser Zeit waren bereits alle fuldischen Güter und Rechte durch Kauf oder Tausch in den Besitz der Domprobstei Mainz gelangt. Das Mainzer Domstift besaß zur gleichen Zeit in Wackernheim einen Zehnthof. Ob dieser schon mit der späteren Zehntscheune in der Bornstraße zusammenhing ist unklar. Aber bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bezog die Mainzer Domprobstei den Wackernheimer Zehnten.

 

Nach dem Tode des Adligen Schultheißen Emmerich von Engelstadt, der für seine Zeit ein sehr vermögender Mann war, stifteten dessen Hinterbliebene zwei Seelgereden, eine kleinere für die Kirche in Ingelheim und eine größere, nämlich jährlich fünf Gulden, welche dem Pfarrer und den Kirchengeschworenen von Wackernheim zugedacht wurden. Diese Stiftung von 1486 hatte folgenden Wortlaut: „Damit sollent sie bestellen off den nuwen altar unßer lieben frauwen zu Wackernheim jerlich alle wochen off dem samstage eine lesende messe von unßer lieben frauwen und was sie dar inn handeln, sollen sie thun mit der Selewerther (Testamentsvollstrecker) und darnach mit der kinde und irer erben radt.“ Der damals in den Urkunden erwähnte Liebfrauenaltar geht also wahrscheinlich auf diese Stiftung zurück. Ob auch der Gemarkungsteil „Seelgreth“ einen Hinweis auf diese Zuwendung gibt, das wird wohl unbekannt bleiben.

 

Letzter katholischer Pfarrer dürfte von 1487 bis 1506 Johann Bytzel gewesen sein, dessen Haushälterin im Dorf als Diebin verschrien war. Als erster reformierter Geistlicher wird 1565 Johann Rosenberger genannt. In den Nöten des 30-jährigen Krieges sank Wackernheim zu einem Filialdorf von Nieder-Ingelheim herab. Von 1662-67 lebte der Schulmeister und Prediger Konrad Wenderoth als letzter Bewohner im mittelalterlichen Wackernheimer Pfarrhaus, das danach schnell verfiel und Ende des 17.  Jahrhunderts abgerissen wurde. Über hundert Jahre lag der Platz als „Pfarrscherbel“ (Ruine) an der Ecke Neustraße-Schulstraße.

 

Bei der Kirchenteilung im Jahre 1706 wurde die uralte St. Martinskirche den Reformierten zugesprochen. Sie hatten die größte Zahl unter den Bürgern und sie erhielten ebenso die umfangreichen Pfarrgüter.

Aus dem Jahre 1737 ist die konfessionelle Aufgliederung der Einwohner bekannt. Es waren 255 Reformierte, 19 Lutheraner, welche von Ober-Ingelheim mitbetreut wurden, und 110 Katholiken. Im Jahre 1807 waren es 330 Reformierte, 23 Lutheraner und 105 Katholiken.

 

1824 vereinigten sich die Reformierten und die Lutheraner zur Ev. Gemeinde. 1828/29 wurde ein neues Schulhaus gebaut, die spätere „große Schule“. Sie dient heute der ev. Gemeinde als Pfarrbüro, Gemeindesaal und im Dachgeschoss als Jugendraum. Über Jahrzehnte war die ehemalige Wohnung im Erdgeschoss an die jeweiligen Küster, in unserem Sprachgebrauch die „Kirchendiener“ vermietet.

 

Um die damalige Zeit des Wiederaufbaus der ev. Kirche kam es bei den Gemeindemitgliedern zu heftigen Kontoversen, 

wegen der Lage des Friedhofes. Ein Teil der Bürger war für die Beibehaltung des Friedhofes um die Kirche, ein anderer Teil wünschte eine Neuanlage westlich der Großen Hohl (Katzenloch); wobei vielleicht noch die Erinnerung an den merowingisch- fränkischen Friedhof vom 5. bis zum 8. Jahrhundert auf dem heutigen Rosenweg wachgehalten war. Wegen dem drohenden Einsturz der Lehmwand südlich der Kirche errichtete man die heute noch vorhandene Mauer. Mit dem geringen damit gewonnenen Gelände war der Streit um den neuen Friedhof vorerst einmal beendet. Bei diesen Bauarbeiten fand man einen Säulenstumpf der als Weihwasser- oder Taufbecken hergerichtet war. Er diente in den folgenden Jahrzehnten, wie auch heute noch, als Taufbecken. Bei dem Reformationsfest 1857 wurde der Taufstein zusammen mit einem von den Eheleuten Peter Hammer gestifteten Altar eingeweiht.

   

Die beiden Kirchen erhielten in den Jahren 1894-95 bunte Fenster. Bei späteren Renovierungen wurden diese Fenster in der ev. Kirche wieder beseitigt. Die Ev. Kirchengemeinde war fast 300 Jahre Filiale von Nieder-Ingelheim; sie wurde 1909 wieder selbstständige Pfarrei und erhielt damals Heidesheim als Filiale hinzu.

 

Im Jahre 1917 mussten sowohl in der katholischen als auch der evangelischen Kirche die Größte der Glocken zur Einschmelzung abgeliefert werden. Eine Wiederbeschaffung erfolgte in beiden Kirchen 1923/24. Diese neue Glocke der ev. Kirche musste im 2. Weltkrieg 1942 wiederum abgeliefert werden. Ein Ersatz dafür wurde unter Mithilfe aller Wackernheimer neun Jahre später angeschafft. Die festliche Neuweihe am 1.5.1951 ist einigen älteren Mitbürgern noch in Erinnerung. Die neue Glocke enthält die gleiche Inschrift wie ihre beiden Vorgängerinnen: „Wachet, stehet fest im Glauben.“ Sie wurde von Gebrüder Rinker, Sinn/Dillkreis gegossen. Schon 1793 hatte die ev. Kirche drei Glocken, wovon eine „gemeindlich war, auch steht die Gemeinuhr in diesem Thurm.“

 

 

Aus alter Überlieferung wird hier um 11 und 13 Uhr, werden Sonn- und Feiertage und das Neue Jahr eingeläutet; Bis in den 1. Weltkrieg (1914-18) auch der „Feierabend“ um 22.30 Uhr. Sowohl von katholischer als auch evangelischer Kirche läuten die Totenglocken nach dem Hinscheiden und zu der Beisetzung. Es ist uralter Brauch gewesen, dass man bei Beerdigungen 4 Nachbarn zur Rechten, Linken und gegenüber bittet, den Nachbarschaftsdienst als Sargträger zu übernehmen. Seit wenigen Jahren wird diese Aufgabe kostenlos von der Wackernheimer Sargträgergruppe wahrgenommen.

                 

Als Vermögen besitzt die evangelische Gemeinde das Pfarrhaus in der Mühlstraße, das Gemeindehaus Ecke Neu- und Schulstraße, 7 Morgen Schulgut und über 20 Morgen Pfarrgut. Das Schul- und Pfarrgut wird schon 1478, 1719/20 und 1752 erwähnt. Es war früher sogenanntes Besoldungskapital, die Erträge flossen also dem Pfarrer oder Lehrer zu. Heute wird das Grundvermögen vom Rentamt der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau in Darmstadt verwaltet.

Im Besitz der evangelischen Kirche sind noch Altarbibeln von 1641 und von 1770. In der Letztgenannten befindet sich folgende Eintragung: „Diese Biblia Sacra ist erkauft worden vor die refformirte Kirche allhier zu Wackernheim vor und um die summa ad drey Gulden und vierzig Kreuzer. Wackernheim, den 16ten Septembris a.d.1770.“ Es folgen die verschnörkelten Initialen des damaligen Pfarrers Johann Philipp Anspach. Des weiteren ist noch eine Handbibel von 1780 vorhanden.

 

Bei der Renovierung in den fünfziger Jahren wurden der Seitenausgang und im Inneren der Chor mit Empore und Kanzel beseitigt. Nach Erzählungen von Helfern hat man damals im Unterboden des Kirchenschiffes bei diesen Renovierungsarbeiten Teile eines Grabsteines mit dem Engelstadter Kreuz gefunden, diese kleingeschlagen und in das Fundament für den Plattenboden wieder vergraben. Vielleicht war dies der Grabstein des bereits erwähnten Schultheißen Emmerich von Engelstadt, zumindest von einem Familienmitglied.

 

Ein anderer schöner Brauch hat sich erneuert. An Heiligabend spielt der Evangelische Posaunenchor die schönsten Weihnachtslieder vom ehemaligen Kirchhof zur Freude aller Wackernheimer, von der Stätte, wo sich die Wackernheimer seit über 1300 Jahren, über alle Zeitläufe, in guten und in schlechten Tagen im Gebet versammelten.

 

Als erster reformierter Geistlicher ist Johann Rosenberger (1565) bekannt. Ein Nachfolger, der lutherische Pfarrer D. Petrus, wurde von einem reformationsgegnerischen Kurfürsten abgesetzt. Es folgen Sebastian Glaumius (1581-83), Johannes Mylander (1602-07), Franz Copius (1607-14), Engelbert Breberemus (1614), Simon Gabriel Trencker (1619-25), Mathias Bien (1625). Hierauf folgte das Hin und Her entsprechend der jeweiligen Besatzungsmacht des 30-jährigen Krieges. Inwieweit schon vor dieser Zeit die reformierten Pfarrer ihren Wohnsitz hier oder in Nieder-Ingelheim hatten ist vorerst noch unbekannt. In diesem unheilvollen Krieg ist unser Wackernheim zu einem Filialdorf der evangelischen Gemeinde Nieder- Ingelheim herabgesunken. Ein Grund dafür wird wohl gewesen sein, dass unsere Einwohnerzahl währenddessen von über 200 auf etwa 80 herabgesunken war. 1662-67 lebte der Schulmeister und Prediger Konrad Wenderoth als letzter Bewohner im mittelalterlichen Pfarrhaus.

                  

Ab 1911 war die evangelische Kirchengemeinde wieder eine selbständige Pfarrgemeinde mit Pfarramt. Jakob Kraus kam zum zweiten Male nach Wackernheim (1912-23) und er bewohnte als erster Pfarrer das neu erbaute Pfarrhaus in der Mühlstraße. Auf ihn folgte Lic. Dr. Dietrich (1923-27), der dann später als Landesbischof von Hessen-Nassau (1934-45) eine unrühmliche Rolle spielte und in seiner hiesigen Zeit das erhebliche Grundvermögen der Landeskirche zukommen ließ. Mit Pfarrer Adam Hartmann (1927-39) verbindet sich unsere Erinnerung an die Feldgottesdienste am „Steinernen Tisch“ auf dem Rabenkopf, an denen manchmal bis 1000 Gläubige (!) teilnahmen. Erstmals wurde dieser Gottesdienst im Jahre 1929 durchgeführt. Die Tradition dieser Feldgottesdienste am Himmelfahrtstag hatte man erfreulicherweise für einige Jahre wieder aufgenommen. Doch zurück zu den Pfarrern. Im Krieg versah Johannes Jürgens aus Mainz-Gonsenheim vertretungsweise unsere Pfarrei (1939-45) und auf ihn folgte der aus dem Heidesheimer Kriegsgefangenenlager entlassene Pfarrer Dr. med. Wilhelm Sauermilch (1945-51). Seine Nachfolger waren der strenge Johannes Hansel (1951-60), Erich Bahlmann (1960-69), Erika Neureuther (1969-72), Thomas Scriba (1972-78), Hans-Jürgen Schmutzler (1978-2003), Silke Bretschneider-Müller (2004-05) und Vera Eichner-Fischer (ab 2006).

 

(Verfasser: Otto Herrmann, Wackernheim)